Sam Fuller: Was das Leben wert ist | ray Filmmagazin (2024)

Sein „Schlachtfeld der Emotionen“ wurde zum Kino-Begriff, seine Filme beeinflussteneine ganze Reihe nicht nur europäischer Filmemacher: Eine Retrospektive imÖsterreichischen Filmmuseum würdigt Samuel Fuller.

Wer über Samuel Fuller schreibt, beginnt am besten mit der Schilderung einer typischen Fuller-Szene, noch besser mit einer der markanten und legendären Eröffnungen. So oder ähnlich könnte ein unausgesprochenes Gesetz lauten für alle, die versuchen, sich dem Werk Fullers schreibend zu nähern – schriftlich zu erfassen, was man in Wahrheit nicht nur sehen, sondern fühlen muss. Doch selbst das ist nur eine kleine Hilfe, um den Einstieg in die Lektüre ähnlich geschossartig wirken zu lassen wie die ersten Bilder, die Fuller auf die Leinwand knallt.

Man könnte also mit der Atombombe aus Hell and High Water beginnen; mit Ralph Meeker als US-Offizier, der inRun of the Arrow gemütlich durchs Bild reitend aus dem Nichts abgeschossen wird; mit dem Donnern der Hufe, die zu Beginn vonForty Guns zu hören sind, bevor Barbara Stanwyck und ihre wilde Horde am Horizont auftauchen (Fuller ist nicht nur ein visueller, sondern auch ein akustischer Regisseur); mit einem Mord als Schattenspiel (Underworld USA) oder natürlich mit Constance Towers, die inNaked Kiss wie wild auf einen vor ihr liegenden Mann einschlägt, um im nächsten Moment ihre Perücke zu verlieren und ihren kahlen Schädel zu entblößen.

Doch mit dem passenden Einstieg ist es bei Fuller nicht getan, denn: „Jeder, der übers Kino, über Filme schreibt, weiß um seine engen Grenzen. Die Bilder entziehen sich der Verfestigung durch Sprache. Was für den Alltag gilt, gilt für Fuller doppelt. Fullers physisches Kino mit Begriffen und Begriffssystemen erfassen zu wollen, ist der schiere Wahnsinn“, schreibt Norbert Grob (Fuller. Edition Filme, 1984): „Bevor man das erste richtige, das erste passende Wort gefunden hat, ist seine überbordende, krude Phantasie längst weiter.“ Bezeichnender Titel des Kapitels: „Bäng. Bäng. Bäng.“

Doch natürlich kann ein zu spät kommendes Wort das richtige sein. Bei Samuel Fuller war es die längste Zeit anders: Viele rechtzeitig kommende Worte über ihn waren die falschen: Kommunist. Faschist. Nationalist. Aber auch die gut gemeinten, sich von der politischen Ausrichtung der Arbeiten bewusst distanzierenden Kommentare von europäischen Kollegen: „Poet des Tellurischen“ (Luc Moullet). „Regisseur der Maßlosigkeit“ (Bertrand Tavernier). Oder einfach: „Gott“ (Bernardo Bertolucci).

Um über Fuller schreiben zu können, braucht es also scheinbar eine bestimmte Nähe, die Aufhebung von Distanz oder einfach: Begeisterung. „Kino muss man entweder mit Leib und Seele machen und leben oder sein lassen“, sagt Fuller: „Und wenn man es macht, dann gelten keine Erklärungen, Ausflüchte, Entschuldigungen, dann gilt nur das, was im Kino zu sehen und zu hören ist.“ Deshalb muss man auch sehr genau beobachten, wie bei Fuller etwa die Leute sitzen, wenn sie miteinander reden, wo sie hinschauen oder, immer wieder, laufen. Denn Fuller ist selbst ein begeisterter Regisseur in dem Sinne, dass das einzelne Bild, die einzelne Einstellung die Atmosphäre des gesamten Film verdichtet und mindestens so viel erzählt wie die ganze Filmhandlung. „The simplest way to describe his best film,Pickup on South Street, is to talk abouthis movie-eye”, schreibt der amerikanische Kritiker und Maler Manny Farber (Negative Space, Da Capo Press, 1971/1998), doch in Wahrheit ist das natürlich das Schwierigste. Oft sind es nämlich die kleinen Dinge, Nebenhandlungen und Nebenschauplätze, die sich als wahre Herzstücke der Filme erweisen: InRun of the Arrow gibt es eine Szene, in der ein stummer Indianerjunge eine Mundharmonika geschenkt bekommt – das erste Geschenk seines Lebens. Später sieht man, wie er hilflos im Treibsand steckt, mit dem Instrument auf sich aufmerksam macht und ein Soldat zu Hilfe eilt: Der Soldat klettert auf einen Ast, zieht den Jungen aus dem Sand – und stürzt selbst in die tödliche Falle. Ein Leben hat ein anderes gefordert, keines der beiden wäre mehr wert gewesen als das andere. Denn Krieg herrscht bei Fuller nicht nur dann, wenn Männer aufeinander schießen. InFixed Bayonets, Fullers zweitem Korea-Film(nachSteel Helmet, dem ersten Korea-Film überhaupt,produziert noch während die Kampfhandlungen in Gange waren), zieht sich ein kleiner Trupp Amerikaner in eineHöhle zurück, um den vorrückenden Feind aufzuhalten. Es ist Winter, und in der weißen Hölle frieren den Soldaten die Zehen ab. Am Lagerfeuer reiben sie einander die Füße, doch wenn man nicht mehr merkt, dass man nichts mehr spürt, ist man schon so gut wie tot.

All diese Szenen – und die Reihe wäre unendlich erweiterbar: etwa Fullers Passion für laufende, stampfende, marschierende und fliehende Füße in Großaufnahme als verzerrtes Sinnbild für die ständige Bewegung einer Nation im Vormarsch – reihen sich ein in klassische Genres, die Fuller in den 50er Jahren explosionsartig nach vorne getrieben hat. Oft spielen seine Filme auf engem Handlungsraum: eine eingeschneite Berghöhe (Fixed Bayonets!), ein unübersichtlicher Dschungel in Burma (Merrill’s Marauders,dem Warner Brothers einen propagandistischen Epilog anklebte), ein U-Boot (Hell and High Water), eine Zeitungsredaktion (Park Row, Fullers Lieblingsfilm über seine eigene Herkunft als Reporter), eine Irrenanstalt (Shock Corridor). Man kann die Bedeutung Fullers für die Weiterentwicklung des Genrekinos im Detail solcher Szenen und einzelner Einstellungen ebenso sehen wie im großen Ganzen (hier steht er in unmittelbarer Nähe zu Robert Aldrich oder Nicholas Ray): Fullers Filme sind gekennzeichnet vom Spannungsverhältnis zwischen Individuum und einer Gesellschaft, die sich in den 50er Jahren in der Rolle einer Weltmacht wieder findet, ohne – nach innen oder nach außen – darauf im geringsten vorbereitet zu sein. Fuller dreht Kriegsfilme, Western, ein paar Kriminalfilme und spielt die so genannten Regeln von neuem durch. Fuller interessiert sich für die Geschichte, diestory, und die muss gut sein und glaubwürdig. (Eines von sechs Geboten Fullers für den Kriegsfilm lautet: „Niemals einem sterbenden GI Gelegenheit geben, seine Brieftasche rauszuholen, um noch einen letzten Blick auf das Foto seiner Geliebten zu werfen. So was passiert nicht.“) Denn dieRegeln begründen die Erwartungshaltung, doch Fuller kümmert sich darum so wenig wie sich seine Helden darum scheren, in sie gesetzte Erwartungen zu erfüllen: Richard Widmark als Taschendieb inPickup on South Street, der zufällig in Besitzeines Mikrofilms der Kommunisten gelangt ist (in deutschenFassungen jagt man immer noch Rauschgifthändler), soll dem FBI helfen – „Are you waving the flag at me?“, fragt er denPolizisten, der ihn mit den Verrätern gleichstellt, die Stalin die A-Bombe zugeschanzt haben sollen; Barry Sullivan als Marshall inForty Guns muss Stanwycks kleinen Bruder zur Strecke bringen, der sich hinter der Schwester verschanzt hat – und erschießt die Frau, die ihn liebt (und auf Studiowunsch ihre Wiederauferstehung feiern darf). „Es gibt keine Feiglinge“, sagt Fuller: „Jeder ist ein Feigling. Und jeder ist mutig. Es passiert einfach in dem Moment, in dem man etwas tut.“

Sein Auftritt in GodardsPierrot le Fou und seine Erklärung vom Film als „Schlachtfeld, auf dem sich Liebe, Hass, Action, Gewalt und Tod abspielen. Mit einem Wort: Emotionen“, fehlt in keinem Text über ihn und wird es auch in Zukunft nicht tun. Bei Fuller bleibt so vieles in Erinnerung, dass, wer über Fuller schreibt, am besten mit einem Zitat endet, denn es gibt sie heute kaum mehr, die Regisseure, die so unterhaltsam und lehrreich von der eigenen Arbeit erzählen können. Sam Fuller, Zeitungsjunge, Kriminalreporter, Drehbuchautor, Soldat, Romanautor, Produzent und Regisseur, starb 1997 im Alter von 85 Jahren. „Ich habe etwas gelernt, das ich anderen vermitteln will. Man soll nicht darüber reden. Man soll es zeigen. Man sollte das tun, was man auf der Bühne, im Radio oder Roman nicht kann. Zeigen Sie es!“

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